Herbst ’18: ein neues Buch von Thilo Sarrazin über, rsp. gegen den Islam, wenig neues, aber viel Aufregung. Immerhin: einhellige Verrisse des Feuilletons. Muss man Pamphlete, einseitige Bücher, Vielbesprochenes und -gelesenes selber lesen? Nicht, wenn im gleichen Jahr Gescheiteres zu haben ist, Umfangreicheres, Spannenderes.
Der Titel von Christopher de Bellaigue: «Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft» liess mich erst allerdings etwas anderes erwarten. Eine Art ‘Klassiker’ zu philosophischen Debatten aus der islamischen Blütezeit, als Europa rückständig, ‘unaufgeklärt’ war, und der Kulturimport vom aus dem Orient kam (zu dieser Ära scheint mir der Autor denn auch am ehesten einem alten Geschichtsklischee aufgesessen zu sein – der überschätzten Bedeutung von Tours und Poitiers (S. 31))… Vielmehr startet der Band allerdings dort, wo viele Geschichtsbetrachtungen zum Islam ausblenden oder abbrechen: Gewählt wird das Jahr 1798, da Napoleon ‘beiläufig eine der Kronjuwelen des Osmanischen Reiches annektiert’ habe, Ägypten (S. 41). Mit Kairo, Istanbul und Teheran werden drei exemplarische Schauplätze gewählt, die zeigen, wie die Moderne, die Aufklärung (die «westliche» diesmal), den Nahen und Mittleres Osten nicht in Ruhe liessen; wie eigene Reformen angestossen wurden, die islamische Welt, ihre Menschen in Bewegung gebracht…
Wir begegnen dabei nicht nur pulsierenden oder verschlafenen Metropolen, je nachdem, sondern Figuren, die lebendig gezeichnet werden. Politiker, Denker, Reformerinnen, die erleben, durchleben, durchdenken, wie sich die Moderne und der Islam befruchten oder begegnen bis bekämpfen (Muhamad Ali, Hassan al-Attar, Rifaa al-Tahtawi, Namik Kemal, Amir Kabir (das marmorne Badehaus seiner Hinrichtung wird noch heute von traurigen Iranern besucht), Jamal al-Din «Afghani», Halide Edib, Muhammad Abduh – aber eben auch die «Reaktionäre» Hassan al-Banna, Sayyd Qutb).
Und es ist ein Lehrstück, die Geschichte mal aus anderer Warte wahrzunehmen. Dabei macht der journalistische Stil die Lektüre durchaus unterhaltsam. Auch wenn etwa die berüchtigte Aufteilung des «Sykes-Picot-Abkommens» (die zertrümmert zu haben sich das Kalifat des IS gebrüstet hatte) relativiert wird, so zeigt doch die Aufteilung des Nahen Ostens anhand einer Karte, die Sykes mit einer Linie vom ‘e’ auf der Karte (Acre / Akkon) zum ‘k’ am Schluss von Kirikuk zog (S. 408), wie sorglos der Westen mit einer Region umging, die ihm heute um so grössere Sorgen bereitet.
Auch wenn der Autor den Islam als «anspruchsvolleste und umfassendste aller Religionen» (S. 416) tituliert, scheut er sich nicht, den Finger auf wunde Punkte zu legen. Wer in der Geschichte zurück blickt, wird die Gegenwart differenzierter wahrnehmen. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft müsste keiner sein – und geht weiter. Auch das verbindet ja die Religionen der Welt, wäre ich versucht zu sagen…
Thomas Markus Meier
Christopher de Bellaigue: Die Islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018 (englisches Original 2017), 542 Seiten
Ein A – Z des Umlernens
Das von Christopher de Bellaige besprochene Buch beginnt mit einem Epochenwechsel: Napoleons Invasion in Ägypten. Mit diesem Einschnitt endet ein kleines Buch, hervorgegangen aus einem Vortrag, und dann herangewachsen zu einer, bisweilen erfrischend polemischen, Streitschrift. Das vierte Kapitel, fast staubtrockene Lexikographie, wäre wenig erwähnenswert, wenn nicht eben diese Disziplin, vor allem das alphabetisch angeordnete Lexikon, eine Erfindung der «islamischen Spätantike» wäre. Damit ist das Stichwort Epochengrenzen, Epocheneinteilung gegeben. Der Autor legt nicht nur stichhaltig dar, wie geschichtslos die Rede eines «islamischen Mittelalters» ist, sondern schlägt veränderte Epochenbezeichnungen vor – und entlarvt die Rede vom «islamischen Mittelalter» als ideologisch-kolonialistisch. Und er nimmt einen geographischen Raum in den Blick, der die persische Geschichte nicht mehr ignoriert: «Die romano-graeco-iranische Antike geht um 250 n.Chr. in eine Spätantike über, die um 1050 grossräumig in eine neue Epoche eintritt, welche wiederum bis etwa 1750 andauert [der Autor schlägt dann den Namen ‘Frühneuzeit’ vor]…» (S. 157).
Lesenswert vor allem Kapitel 2, das Orient und Okzident vergleicht, vom «Alphabetismus» durchs Alphabet bis zu «Ziffern und Zahlen». Ein vergnügliches Lexikon! Umlernen lässt einem aber vor allem das Einstiegskapitel, das sechs Gründe bespricht, warum es eben gar kein islamisches Mittelalter gab. Wer sich endlich durch alle Kapitel liest, wird sich schliesslich aber auch vom «christlichen Mittelalter» verabschieden…
Thomas Markus Meier
Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient.
C.H. Beck 2018, 175 Seiten
Macht Lust auf mehr
Die Buchbesprechung ‘Warum es kein islamisches Mittelalter gab’ wies darauf hin, dass unser Epochendenken eurozentrisch ist, mit einer oft eigenen, verborgenen, nicht mehr bewussten Agenda. Thomas Bauer schlug deshalb vor, die Grenze der Spätantike zu verschieben, etwa aufs Jahr 1050. Wichtige Beobachtungen zu Bedeutung der Spätantike für die abrahamitischen Religionen, und vor allem für die Entstehung des Korans, steuert auch immer wieder Angelika Neuwirth bei. So weist sie auf ein ähnliches Phänomen hin: Die Marginalisierung jüdisch-christlicher Traditionen der Exegese in der islamischen Theologie – und das eben als Reaktion auf Kolonialideologien. Neuwirth zeigt das im Kapitel «Die Heiligkeitsachse Mekka-Jerusalem» (S.181) in einer Vorlesungsreihe zur Entwicklung koranischer Botschaften. Wer nicht die umfangreichen und kostspieligen Koran-Kommentare (die ausserdem nur sehr langsam erscheinen) kaufen / lesen will, bekommt hier auf engstem Raum exemplarische Koranexegese als Spiegel spätantiker Debattenkultur. Wie Argumente kommen und leiser werden, neu oder anders akzentuiert. Sie wertet dabei den Stand der Forschung nicht nur aus westlicher Islamwissenschaft, sondern auch der muslimische Islamgelehrten. Mitunter fördert sie bislang Übersehenes zu Tage und zeigt die grossen Bögen auf. So wird das Buch zu einem kleinen Kompendium auf dem Weg zu mehr Geschwisterlichkeit unter den abrahamitischen Religionen – «ein Anspruch, der immer noch auf seine Erfüllung wartet.» (S.256) Mit Entzauberung im Titel ist denn auch nicht eine Demontage einer Religion und ihrer Botschaft gemeint, sondern, im Gegenteil: Eine sorgsame und kluge Einordnung in eine Geschichte, die nicht neben- oder nacheinander herlief, sondern in gegenseitiger Beeinflussung; manchmal als Abgrenzung, manchmal als Weiterschreibung, oft mit neuen Akzenten…
Thomas Markus Meier
Angelika Neuwirth: Die Koranische Verzauberung der Welt und ihre Entzauberung in der Geschichte. Herder, Freiburg i. B. 2017, 264 Seiten