Nadir Polat

Beruf: Architekt / Geschäftsführer

Interesse an der GCM: Leider gibt es auf christlicher und auf muslimischer Seite viel zu viel gegenseitige Vorurteile, die auf Unwissen basieren. Andererseits sollen beide Glauben, der christliche und der muslimische, mit viel Bewusstsein, Engagement und Liebe ausgelebt werden können; losgelöst von jeglichem Fanatismus, basierend auf einen Leitsatz des Mevlana Celaleddin Rumi: Wir lieben die Schöpfung mit dem Referenzen des Schöpfers. Daher kommt meine Entscheidung mich bei GCM zu engagieren.

Wirkungsfeld/Ort: Beruflich: In der Firma in Grenchen oder auf Baustellen zwischen Biel und Aarau
Ehrenamtliche Engagements: Bau- und Immobilienberatungen bei Islamischen Vereinen, Diverse Veranstaltungen im Rahmen des Interreligiösen Dialoges, sofern vom Beruf und von der Familie übrigbleibende Zeit zulässt.

Lamya Hennache

Beruf: Juriste, Master en droit de la santé au Maroc 2009. Master en Droit International et Européen Université de Genève 2013 Certificat de droit transnational Univ.Genève.2013

Interesse für die GCM: Als Muslimin, die in der Schweiz lebt, möchte ich auf meine Weise am gesellschaftlichen Miteinander teilhaben. Als Muslimin habe ich in der Schweiz auch einige schwierige Erfahrungen machen müssen und ich wünsche mir, dass das Verhalten gewisser Personen sich nicht wiederholt. Sich Leuten anzunähern, ihnen zuhören und mit ihnen sprechen ist die beste Art um Konflikte zu vermeiden und um Verdächtigungen aufzulösen. 

Wirkungsfeld: Ich bin vielfältig aktiv; Im Rahmen meiner Arbeit als Juristin pflege ich den Kontakt zu verschiedenen Menschen jeglicher Herkunft oder religiöser Zugehörigkeit. Ich bin unter Anderem Mitglied bei Dar- An- Nur, dem islamischen Frauenzentrum in Bern (vgl. Webseite) und engagiere mich für die feministische Friedensorganisation (vgl.  Webseite)

Bücherherbst

Herbst ’18: ein neues Buch von Thilo Sarrazin über, rsp. gegen den Islam, wenig neues, aber viel Aufregung. Immerhin: einhellige Verrisse des Feuilletons. Muss man Pamphlete, einseitige Bücher, Vielbesprochenes und -gelesenes selber lesen? Nicht, wenn im gleichen Jahr Gescheiteres zu haben ist, Umfangreicheres, Spannenderes.
Der Titel von Christopher de Bellaigue: «Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft» liess mich erst allerdings etwas anderes erwarten. Eine Art ‘Klassiker’ zu philosophischen Debatten aus der islamischen Blütezeit, als Europa rückständig, ‘unaufgeklärt’ war, und der Kulturimport vom aus dem Orient kam (zu dieser Ära scheint mir der Autor denn auch am ehesten einem alten Geschichtsklischee aufgesessen zu sein – der überschätzten Bedeutung von Tours und Poitiers (S. 31))… Vielmehr startet der Band allerdings dort, wo viele Geschichtsbetrachtungen zum Islam ausblenden oder abbrechen: Gewählt wird das Jahr 1798, da Napoleon ‘beiläufig eine der Kronjuwelen des Osmanischen Reiches annektiert’ habe, Ägypten (S. 41). Mit Kairo, Istanbul und Teheran werden drei exemplarische Schauplätze gewählt, die zeigen, wie die Moderne, die Aufklärung (die «westliche» diesmal), den Nahen und Mittleres Osten nicht in Ruhe liessen; wie eigene Reformen angestossen wurden, die islamische Welt, ihre Menschen in Bewegung gebracht… 
Wir begegnen dabei nicht nur pulsierenden oder verschlafenen Metropolen, je nachdem, sondern Figuren, die lebendig gezeichnet werden. Politiker, Denker, Reformerinnen, die erleben, durchleben, durchdenken, wie sich die Moderne und der Islam befruchten oder begegnen bis bekämpfen (Muhamad Ali, Hassan al-Attar, Rifaa al-Tahtawi, Namik Kemal, Amir Kabir (das marmorne Badehaus seiner Hinrichtung wird noch heute von traurigen Iranern besucht), Jamal al-Din «Afghani», Halide Edib, Muhammad Abduh – aber eben auch die «Reaktionäre» Hassan al-Banna, Sayyd Qutb).
Und es ist ein Lehrstück, die Geschichte mal aus anderer Warte wahrzunehmen. Dabei macht der journalistische Stil die Lektüre durchaus unterhaltsam. Auch wenn etwa die berüchtigte Aufteilung des «Sykes-Picot-Abkommens» (die zertrümmert zu haben sich das Kalifat des IS gebrüstet hatte) relativiert wird, so zeigt doch die Aufteilung des Nahen Ostens anhand einer Karte, die Sykes mit einer Linie vom ‘e’ auf der Karte (Acre / Akkon) zum ‘k’ am Schluss von Kirikuk zog (S. 408), wie sorglos der Westen mit einer Region umging, die ihm heute um so grössere Sorgen bereitet.
Auch wenn der Autor den Islam als «anspruchsvolleste und umfassendste aller Religionen» (S. 416) tituliert, scheut er sich nicht, den Finger auf wunde Punkte zu legen. Wer in der Geschichte zurück blickt, wird die Gegenwart differenzierter wahrnehmen. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft müsste keiner sein – und geht weiter. Auch das verbindet ja die Religionen der Welt, wäre ich versucht zu sagen…

Thomas Markus Meier

Christopher de Bellaigue: Die Islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018 (englisches Original 2017), 542 Seiten

Ein A – Z des Umlernens

Das von Christopher de Bellaige besprochene Buch beginnt mit einem Epochenwechsel: Napoleons Invasion in Ägypten. Mit diesem Einschnitt endet ein kleines Buch, hervorgegangen aus einem Vortrag, und dann herangewachsen zu einer, bisweilen erfrischend polemischen, Streitschrift. Das vierte Kapitel, fast staubtrockene Lexikographie, wäre wenig erwähnenswert, wenn nicht eben diese Disziplin, vor allem das alphabetisch angeordnete Lexikon, eine Erfindung der «islamischen Spätantike» wäre. Damit ist das Stichwort Epochengrenzen, Epocheneinteilung gegeben. Der Autor legt nicht nur stichhaltig dar, wie geschichtslos die Rede eines «islamischen Mittelalters» ist, sondern schlägt veränderte Epochenbezeichnungen vor – und entlarvt die Rede vom «islamischen Mittelalter» als ideologisch-kolonialistisch. Und er nimmt einen geographischen Raum in den Blick, der die persische Geschichte nicht mehr ignoriert: «Die romano-graeco-iranische Antike geht um 250 n.Chr. in eine Spätantike über, die um 1050 grossräumig in eine neue Epoche eintritt, welche wiederum bis etwa 1750 andauert [der Autor schlägt dann den Namen ‘Frühneuzeit’ vor]…» (S. 157). 
Lesenswert vor allem Kapitel 2, das Orient und Okzident vergleicht, vom «Alphabetismus» durchs Alphabet bis zu «Ziffern und Zahlen». Ein vergnügliches Lexikon! Umlernen lässt einem aber vor allem das Einstiegskapitel, das sechs Gründe bespricht, warum es eben gar kein islamisches Mittelalter gab. Wer sich endlich durch alle Kapitel liest, wird sich schliesslich aber auch vom «christlichen Mittelalter» verabschieden… 

Thomas Markus Meier

Thomas Bauer: Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient.
C.H. Beck 2018, 175 Seiten

Macht Lust auf mehr

Die Buchbesprechung ‘Warum es kein islamisches Mittelalter gab’ wies darauf hin, dass unser Epochendenken eurozentrisch ist, mit einer oft eigenen, verborgenen, nicht mehr bewussten Agenda. Thomas Bauer schlug deshalb vor, die Grenze der Spätantike zu verschieben, etwa aufs Jahr 1050. Wichtige Beobachtungen zu Bedeutung der Spätantike für die abrahamitischen Religionen, und vor allem für die Entstehung des Korans, steuert auch immer wieder Angelika Neuwirth bei. So weist sie auf ein ähnliches Phänomen hin: Die Marginalisierung jüdisch-christlicher Traditionen der Exegese in der islamischen Theologie – und das eben als Reaktion auf Kolonialideologien. Neuwirth zeigt das im Kapitel «Die Heiligkeitsachse Mekka-Jerusalem» (S.181) in einer Vorlesungsreihe zur Entwicklung koranischer Botschaften. Wer nicht die umfangreichen und kostspieligen Koran-Kommentare (die ausserdem nur sehr langsam erscheinen) kaufen / lesen will, bekommt hier auf engstem Raum exemplarische Koranexegese als Spiegel spätantiker Debattenkultur. Wie Argumente kommen und leiser werden, neu oder anders akzentuiert. Sie wertet dabei den Stand der Forschung nicht nur aus westlicher Islamwissenschaft, sondern auch der muslimische Islamgelehrten. Mitunter fördert sie bislang Übersehenes zu Tage und zeigt die grossen Bögen auf. So wird das Buch zu einem kleinen Kompendium auf dem Weg zu mehr Geschwisterlichkeit unter den abrahamitischen Religionen – «ein Anspruch, der immer noch auf seine Erfüllung wartet.» (S.256) Mit Entzauberung im Titel ist denn auch nicht eine Demontage einer Religion und ihrer Botschaft gemeint, sondern, im Gegenteil: Eine sorgsame und kluge Einordnung in eine Geschichte, die nicht neben- oder nacheinander herlief, sondern in gegenseitiger Beeinflussung; manchmal als Abgrenzung, manchmal als Weiterschreibung, oft mit neuen Akzenten…
Thomas Markus Meier

Angelika Neuwirth: Die Koranische Verzauberung der Welt und ihre Entzauberung in der Geschichte. Herder, Freiburg i. B. 2017, 264 Seiten

Interview mit Abdulrahman über Boko Haram

Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz (GCM)

Beitrag für Mitgliederinformation Nr. 2/2015

“Boko Haram ist ein sehr kompliziertes Thema”

Gespräch mit einem muslimischen Studenten aus Nigeria über
mögliche Unterstützer und unterschiedliche Ansichten zur Terrororganisation

Abdulrahman Aliyu Yaro lebt in Jos, einer Stadt im Zentrum Nigerias. Dort kam es in den letzten 20 Jah- ren immer wieder zu politisch motivierten Gewaltereignissen zwischen Angehörigen verschiedener ethni- scher Gruppen, welche christlich oder muslimisch geprägt sind. Es gab in Jos auch Bombenanschläge durch Boko Haram. Der 25jährige Jura-Student engagiert sich in interreligiösen Friedensprojekten mit einer Partnerkirche von Mission 21. Auf Einladung des Basler Missionswerks kam er im Juni 2015 in die Schweiz und traf sich dort auch mit Vorstandsmitgliedern der GCM.

Die meisten Leute, die er in der Schweiz getroffen habe, hätten das Thema Boko Haram angesprochen, als sie erfahren hätten, dass er aus Nigeria komme, sagt Yaro. Über die Unterstützer, Motivationen und Pläne der Terrororganisation gibt es unterschiedliche Ansichten. Laut Andrew Walker1 ist ihr Ziel die Be- kämpfung korrupter und ‚falscher‘ lokaler muslimischer Politiker, die Auflösung des Staates Nigeria inklu- sive seiner Institutionen und die Errichtung eines ‚reinen‘ islamischen Staates im Norden Nigerias, in dem das Recht der Scharia gilt. Boko Haram finanziert sich unter anderem durch Spenden aus dem In- und Ausland, Banküberfälle, Erpressung lokaler Behörden und Entführungen. Um ihr Ziel zu erreichen verübt Boko Haram Angriffe auf Sicherheitskräfte, lokale muslimische Führungspersonen, Moscheen, Kirchen, Schulen, Märkte, Medien, Regierungsgebäude und weitere öffentliche Einrichtungen. Dadurch tötete die Terrororganisation seit 2009 mehr als 13‘000 Menschen und entführte tausende, so im April 2014 die 276 Schülerinnen von Chibok, was weltweit für Empörung sorgte.

Zur Vermittlung in dieser Geiselnahme engagierte die Nigerianische Regierung laut Yaro den Au- stralier Dr. Stephen Davis.2 Dieser konnte zwar keine Befreiung der Geiseln erreichen, aber über längere Zeit mit mehreren Kommandanten und Vertretern von Boko Haram sprechen und dabei Einblick in deren mögliches Unterstützungsnetz gewinnen. Nach Beendigung seines Auftrages beschuldigte Davis im Au- gust 2014 in verschiedenen Medien hochrangige politische und militärische Akteure der Unterstützung für Boko Haram. Darunter seien der ehemalige Gouverneur von Borno State, Modu Sherriff (ein Muslim) und ein ehemaliger Chef der Armee, General Azubuike Ihejirika (ein Christ). Dr. Davis beschuldigte auch ei- nen höheren Beamten der Nigerianischen Zentralbank der Transaktionen für Boko Haram und einen in Kairo stationierten Mann, der dort Boko Haram vertrete. Diese vier Männer sind laut Davis Hauptakteure bei der Finanzierung und dem Fortbestehen dieser Sekte. Beide namentlich genannten Akteure waren empört über die Anschuldigungen und wiesen sie zurück. Zu einem Gerichtsverfahren ist es bisher nicht gekommen.

Unterschiedliche Ansichten von NigerianerInnen zu Boko Haram

In der Bevölkerung Nigerias gibt es laut Yaro unterschiedliche Ansichten zu den Zielen und Hintergrün- den von Boko Haram. „Christliche Durchschnittsbürger sagen, Boko Haram ist eine Gruppe, die von Mus- limen gebildet wurde, um Nigeria zu islamisieren. Einige Christen sahen die Gruppe auch als ein Mittel, um das Land für den früheren christlichen Präsidenten Jonathan (2010-2015) unregierbar zu machen. Muslimische Durchschnittsbürger hingegen sagen, dass Boko Haram gebildet wurde, um die Zahl der Muslime in Nigeria zu dezimieren, insbesondere im nördlichen Teil des Landes“. Dort finden die meisten

1 Andrew Walker: What Is Boko Haram? United States Institute of Peace Special Report, June 2012 (http://www- dev.usip.org/sites/default/files/SR308.pdf ; Zugriff am 16.7.2015; die Informationen in diesem Abschnitt basieren auf Walkers Bericht).
2 Die Informationen in diesem Abschnitt basieren auf: http://saharareporters.com/2014/08/31/australian-negotiator- insists-modu-sheriff-ihejirika-sponsor-boko-haram-exonerates-buhari (Zugriff am 16.7.2015).

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Terroranschläge statt, und die Mehrzahl der Bewohner im Norden Nigerias ist muslimisch geprägt. „Eini- ge Muslime sehen Boko Haram auch als Mittel der Rache für den Bürgerkrieg zwischen dem Norden und Süden des Landes.“ Nach der Unabhängigkeit von Grossbritannien 1960 kam es in Nigeria zu Spannun- gen zwischen den dominierenden Volksgruppen, die sich zwischen 1967 und 1970 in einem blutigen Bürgerkrieg entluden (auch bekannt als Biafra-Krieg). Schliesslich sind einige Muslime gemäss Yaro der Meinung, „dass Boko Haram ein strategisches Mittel ist, um die Muslime Nigerias und den Islam in den Augen der Welt als terroristisch zu brandmarken, was als Vorwand dazu dient, Muslime im Namen der Terrorismusbekämpfung zu töten.“

Einseitige Medienbeiträge

“Boko Haram ist ein sehr kompliziertes Thema voller Widersprüche”, sagt Yaro. Die Medien würden der Welt meistens nur kommunizieren, dass Boko Haram eine islamische Organisation sei, welche Nigeria islamisieren wolle. „Sie sagen der Welt jedoch nicht, wie sehr diese Sekte den Prinzipien, Ideologien und der Kultur des Islams in allen Belangen widerspricht.“ Die Medien stellten auch eher Christen als Opfer von Boko Haram dar, obwohl die Mehrheit der Opfer Muslime seien. Als Beispiel führt Yaro die Entfüh- rung der Schülerinnen von Chibok an, 90% von ihnen seien Christinnen. Zuvor und danach seien jedoch mehrere tausend vorwiegend muslimische Mädchen und Frauen entführt worden, worüber in den Medien kaum berichtet worden sei. Die muslimische Gemeinschaft in Nigeria, insbesondere sunnitische Gruppen, haben laut Yaro neben tausenden Mitgliedern auch fast hundert ihrer prominenten Gelehrten und Lei- tungspersonen verloren. Sie alle hätten Boko Haram kritisiert und seien deswegen durch die Sekte in ihren Moscheen oder Häusern ermordet worden. „Wieviele Medien berichten darüber?“, fragt Yaro.

Untätige Behörden

Die Behörden Nigerias tragen zur Verstärkung des Konfliktes um Boko Haram bei. Korruption, Parteilich- keit, Untätigkeit, Inkompetenz, Willkür, Amtsmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen sind bekannte Probleme bei Militär, Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Verwaltungen. Yaro hat den Eindruck, dass die Behörden insbesondere bei christlichen Akteuren ein Auge zudrückten, wenn diese terroristische Handlungen vorbereiteten oder durchführten. Als Beispiel nennt er Fälle, wo Christen im Norden Nigerias Kirchen und andere Einrichtungen angegriffen oder Angriffe geplant hätten. Zudem hat Yaro den Ein- druck, dass terroristische Handlungen gegen Muslime weniger genau oder gar nicht untersucht würden. Er nennt auch hier einige Beispiele und spricht von einer Doppelmoral der Behörden unter dem bisheri- gen (christlichen) Präsidenten Jonathan. Zutreffend ist sicher, dass Justiz und Sicherheitskräfte in Nige- ria, in denen ebenso christliche wie muslimische Beamte arbeiten, aus verschiedenen Gründen schwa- che Institutionen sind und deshalb viele Verbrechen nicht aufgeklärt und die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dadurch wird in der Bevölkerung nicht nur die Legitimität und Glaubwürdigkeit staatli- cher Institutionen in Frage gestellt, sondern es kommt auch vermehrt zu Fällen von Rache und Selbstju- stiz. Ob der Ende Mai 2015 vereidigte neue (muslimische) Präsident Buhari die Situation verbessern kann wird sich weisen.

Mathias Tanner, arbeitet an einer Dissertation zu interreligiöser Friedensförderung in Jos, Nigeria. Das Gespräch mit Abdulrahman Aliyu Yaro wurde auf Englisch geführt und anschliessend übersetzt.

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Ikonografie des Heiligen Krieges


Claudio Lange: Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst. Parthas Verlag 2004 Lübeck

In Stein gemeisselte Muezzine rufen lautlos von Fassaden romanischer Kathedralen; Pisas Campanile zitiert das islamische Minarett und kommt allein der eingehängten Glocken wegen in Schieflage… Wir sehen nur, was wir auch wissen – diese Erfahrung macht oft, wer eine gute Museumsführung oder Kunstreise erfährt. Oder sich Claudio Langes Bildband «Der nackte Feind³ gönnt. Bislang schwer deutbare romanische Skulpturen erzählen plötzlich eine verdrängte Geschichte – und der lautlose Muezzin verrät sein tragisches Geheimnis. Beispiel: Im Kreuzgang des Grossmünsters in Zürich sehen wir, nicht etwa versteckt, sondern auf Augenhöhe, eine nackte Person – sowohl in Gebetshaltung, als auch sich gleichzeitig selbstbefriedigend! Die Wirbelsäule zeichnet sich durchs Fleisch ab, so dass der stachlige Rücken die Figur als von oben bis unten dem Stachel der Sünde erliegend denuziert. Weitere pikante Darstellungen wären zu beschreiben – der Bildband zeigt sie, eine Auswahl der Fotoaustellung «Islam in Kathedralen – Bilder des Antichristen in der romanischen Skulptur³ (Berlin Juni 03 – März 04). Und, weil wir nur sehen, was wir wissen, ebenso wichtig die deutenden Texte des freischaffenden Künstlers und Religionswissenschaftlers Claudio Lange, ergänzt um Artikel (Almut Sh. Bruckstein, Gil Anidjar, Claudio Lange), die Kirchen- und Kunstgeschichte, christliche und politische Theologie neu befragen. Zu hoffen, dass diese Sehschule nicht nur die Augen öffnet für verdrängte Polemik, sondern auch hinschauen lernt auf aktuelle Problematik. Zu wünschen: ein Europa, das sich von lebendigen muslimischen Gemeinschaften bereichern lässt, statt sein jüdisch-arabisches Erbe zu verleugnen.

Thomas Markus Meier

Dickes Buch, Gedankenwälzer

Andreas Bsteh (Hrsg.) Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie St. Gabriel, Mödling 1994, DM 42.80

Der über 500 Seiten starke Band eröffnet die Reihe ³Studien zur Religionstheologie², die christliche Theologie in der Fragestellung der anderen Religionen entwickeln will. Mit dem Nachfolgeband ³Christlicher Glaube in der Begegnung mit dem Islam² wird der Begegnung mit dem Islam ein zweiteiliges Werk gewidmet. Die Anlage der Reihe ist speziell: Neben den zehn Referaten hochrangiger Autoritäten der Islamwissenschaft und der christlich-islamischen Begegnung wird der intensive Gedankenaustausch in Arbeitskreisen und in den Plenumsdiskussionen der Religionstheologischen Akademien der Hochschule St. Gabriel veröffentlicht. Dadurch können die Leser an der Entwicklung von Gedanken teilnehmen , vertiefen sich in neu aufgetauchte Fragestellungen und erweitern ihr Verständnis. Fragen bleiben zum Weiterdenken offen; sie werden zu Impulsen für weitere wissenschaftliche oder auch spirituelle Auseinandersetzungen. Die ³Gesprächsprotokolle² sind sorgfältig redigiert und lesen sich flüssig und spannend. Herauszuheben sind insbesondere die Gesprächsbeiträge von Annemarie Schimmel, die von der Mystik her tief religiöse Gehalte zum Aufleuchten bringt – aber auch die Ausführungen von Adel Th.Khoury, der aus seinen profunden Kenntnissen, auch zur aktuellen Lage, schöpfen kann. Interessant auch, wie Rotraud Wielandt die europäische Fragetrias von Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung in einen Dialog bringt mit der Weltverantwortung des Menschen aus islamischer Sicht. Das Buch bringt für alle am Islam Interessierten eine Fülle von Informationen und Anregungen; die Probleme werden beim Namen genannt und differenziert ausgeleuchtet, ohne vorschnell zu harmonisieren. Ein ausführliches Namen- und Quellenregister erhöht die Brauchbarkeit des Bandes, ebenso das ansprechende Druckbild mit Randverweisen. Vielleicht wäre ein symmetrischer Satz, wo die Marginalien jeweils auf den Aussensteg zu liegen kämen, noch praktischer. (Corrigenda: Für die Sorgfalt spricht auch ein einziger Druckfehler S. 411, wo es Paradiesesvorstellungen heissen muss.)

Thomas Markus Meier

Bireligiöse Ehen

Christlich-muslimische Ehen und Familien Hrsg. von Thomas Dreessen, Irene Franke-Atli, Heinz Klautke u.a. (Interkulturelle Beiträge Nr. 18), Verlag Otto Lembeck, Frankfurt am Main, 1998 DM 14.80 / OES 108.- / SFR 14.- ³

Für jede Mauer, die der Prophet gesetzt hat, gibt es eine Tür. Und die Tür ist die Liebe.² (S.25). Dieser Satz aus einem der eröffnenden Gesprächsprotokolle des 96 seitigen Ratgebers könnte gut als Motto für diese praktische Handreichung gelten. Sie bietet zuerst mit fünf Erfahrungsberichten eine persönlich gefärbte Tour d¹Horizon zu Chancen und Problemen einer bi-kulturellen (und bi-religiösen) Partnerschaft. Im Hauptteil dann wird knapp und präzise informiert: über Rechtsfragen, Konfliktfelder, Beratungsmöglichkeiten (diese leider stark ausgerichtet auf die Evangelische Kirche Deutschlands) und weiterführende Literatur. Mitabgedruckt ist ebenfalls das Muster eines islamischen Ehevertrags. Empfohlen sei diese praktische Broschüre vor allem jenen, die selber eine religionsverschiedene Ehe eingehen wollen; gemäss dem orientalischen Wahlspruch: ³Vertau¹ auf Gott – und binde dein Kamel fest!² (S.72)…

Thomas Markus Meier

ChristInnen in Palästina


Ulrike Bechmann, Mitri Raheb (Hrsg.) Verwurzelt im Heiligen Land Einführung in das palästinensische Christentum Verlag Josef Knecht, Frankfurt am Main 1995, DM 20.- Der Weltgebetstag 1994, verfasst von palästinensischen Christinnen, wurde sehr kontrovers beurteilt; machte aber vorallem ein Defizit deutlich: Palästinensisches Christentum nämlich ist vormals oft als ein durch Missionare importiertes verstanden worden, jetzt aber tritt die altehrwürdige Tradition der ChristInnen aus dem Lande Jesu neu ins Bewusstsein. Eine wertvolle Einführung in dies weithin unbekannte Christentum liegt nun mit dem 240 Seiten starken Paperback vor. Historische Hinführungen, theologische Grundsatzüberlegungen sowie konkrete Themen und Beispiele um die Frauenfrage oder das Bildungs- und Sozialwesen in Palästina ergeben einen guten Einblick in das palästinensische Christentum. Hierbei ist den arabischen ChristInnen wirklich zu wünschen, dass ihre ³entscheidende Rolle beim Aufbau eines trilinearen Dialogs² (120) dem Friedensprozess diene und auch uns fruchtbare Impulse vermittle. Bewusst unausgesprochen bleibt zum Teil die politische Brisanz,sie wird höchstens leise angetönt oder wirkt wie um den heissen Brei geredet. Andererseits erscheint mir dennoch manches ideologisch gefärbt. So ist es beispielsweise kaum klärend, den Apostel Jakobus etwa als ersten palästinensischen Bischof zu bezeichenen (139). Empfehlen darf ich dieses ökumenische Handbuch als Reisevorberietung oder auch als Nachdenkimpuls (für letzteres vor allem das Kapitel von Ottmar Fuchs!).

Thomas Markus Meier