Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz (GCM)
Beitrag für Mitgliederinformation Nr. 2/2015
“Boko Haram ist ein sehr kompliziertes Thema”
Gespräch mit einem muslimischen Studenten aus Nigeria über
mögliche Unterstützer und unterschiedliche Ansichten zur Terrororganisation
Abdulrahman Aliyu Yaro lebt in Jos, einer Stadt im Zentrum Nigerias. Dort kam es in den letzten 20 Jah-
ren immer wieder zu politisch motivierten Gewaltereignissen zwischen Angehörigen verschiedener ethni-
scher Gruppen, welche christlich oder muslimisch geprägt sind. Es gab in Jos auch Bombenanschläge
durch Boko Haram. Der 25jährige Jura-Student engagiert sich in interreligiösen Friedensprojekten mit
einer Partnerkirche von Mission 21. Auf Einladung des Basler Missionswerks kam er im Juni 2015 in die
Schweiz und traf sich dort auch mit Vorstandsmitgliedern der GCM.
Die meisten Leute, die er in der Schweiz getroffen habe, hätten das Thema Boko Haram angesprochen,
als sie erfahren hätten, dass er aus Nigeria komme, sagt Yaro. Über die Unterstützer, Motivationen und
Pläne der Terrororganisation gibt es unterschiedliche Ansichten. Laut Andrew Walker1 ist ihr Ziel die Be-
kämpfung korrupter und ‚falscher‘ lokaler muslimischer Politiker, die Auflösung des Staates Nigeria inklu-
sive seiner Institutionen und die Errichtung eines ‚reinen‘ islamischen Staates im Norden Nigerias, in dem
das Recht der Scharia gilt. Boko Haram finanziert sich unter anderem durch Spenden aus dem In- und
Ausland, Banküberfälle, Erpressung lokaler Behörden und Entführungen. Um ihr Ziel zu erreichen verübt
Boko Haram Angriffe auf Sicherheitskräfte, lokale muslimische Führungspersonen, Moscheen, Kirchen,
Schulen, Märkte, Medien, Regierungsgebäude und weitere öffentliche Einrichtungen. Dadurch tötete die
Terrororganisation seit 2009 mehr als 13‘000 Menschen und entführte tausende, so im April 2014 die 276
Schülerinnen von Chibok, was weltweit für Empörung sorgte.
Zur Vermittlung in dieser Geiselnahme engagierte die Nigerianische Regierung laut Yaro den Au-
stralier Dr. Stephen Davis.2 Dieser konnte zwar keine Befreiung der Geiseln erreichen, aber über längere
Zeit mit mehreren Kommandanten und Vertretern von Boko Haram sprechen und dabei Einblick in deren
mögliches Unterstützungsnetz gewinnen. Nach Beendigung seines Auftrages beschuldigte Davis im Au-
gust 2014 in verschiedenen Medien hochrangige politische und militärische Akteure der Unterstützung für
Boko Haram. Darunter seien der ehemalige Gouverneur von Borno State, Modu Sherriff (ein Muslim) und
ein ehemaliger Chef der Armee, General Azubuike Ihejirika (ein Christ). Dr. Davis beschuldigte auch ei-
nen höheren Beamten der Nigerianischen Zentralbank der Transaktionen für Boko Haram und einen in
Kairo stationierten Mann, der dort Boko Haram vertrete. Diese vier Männer sind laut Davis Hauptakteure
bei der Finanzierung und dem Fortbestehen dieser Sekte. Beide namentlich genannten Akteure waren
empört über die Anschuldigungen und wiesen sie zurück. Zu einem Gerichtsverfahren ist es bisher nicht
gekommen.
Unterschiedliche Ansichten von NigerianerInnen zu Boko Haram
In der Bevölkerung Nigerias gibt es laut Yaro unterschiedliche Ansichten zu den Zielen und Hintergrün-
den von Boko Haram. „Christliche Durchschnittsbürger sagen, Boko Haram ist eine Gruppe, die von Mus-
limen gebildet wurde, um Nigeria zu islamisieren. Einige Christen sahen die Gruppe auch als ein Mittel,
um das Land für den früheren christlichen Präsidenten Jonathan (2010-2015) unregierbar zu machen.
Muslimische Durchschnittsbürger hingegen sagen, dass Boko Haram gebildet wurde, um die Zahl der
Muslime in Nigeria zu dezimieren, insbesondere im nördlichen Teil des Landes“. Dort finden die meisten
1 Andrew Walker: What Is Boko Haram? United States Institute of Peace Special Report, June 2012 (http://www-
dev.usip.org/sites/default/files/SR308.pdf ; Zugriff am 16.7.2015; die Informationen in diesem Abschnitt basieren auf
Walkers Bericht).
2 Die Informationen in diesem Abschnitt basieren auf: http://saharareporters.com/2014/08/31/australian-negotiator-
insists-modu-sheriff-ihejirika-sponsor-boko-haram-exonerates-buhari (Zugriff am 16.7.2015).
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Terroranschläge statt, und die Mehrzahl der Bewohner im Norden Nigerias ist muslimisch geprägt. „Eini-
ge Muslime sehen Boko Haram auch als Mittel der Rache für den Bürgerkrieg zwischen dem Norden und
Süden des Landes.“ Nach der Unabhängigkeit von Grossbritannien 1960 kam es in Nigeria zu Spannun-
gen zwischen den dominierenden Volksgruppen, die sich zwischen 1967 und 1970 in einem blutigen
Bürgerkrieg entluden (auch bekannt als Biafra-Krieg). Schliesslich sind einige Muslime gemäss Yaro der
Meinung, „dass Boko Haram ein strategisches Mittel ist, um die Muslime Nigerias und den Islam in den
Augen der Welt als terroristisch zu brandmarken, was als Vorwand dazu dient, Muslime im Namen der
Terrorismusbekämpfung zu töten.“
Einseitige Medienbeiträge
“Boko Haram ist ein sehr kompliziertes Thema voller Widersprüche”, sagt Yaro. Die Medien würden der
Welt meistens nur kommunizieren, dass Boko Haram eine islamische Organisation sei, welche Nigeria
islamisieren wolle. „Sie sagen der Welt jedoch nicht, wie sehr diese Sekte den Prinzipien, Ideologien und
der Kultur des Islams in allen Belangen widerspricht.“ Die Medien stellten auch eher Christen als Opfer
von Boko Haram dar, obwohl die Mehrheit der Opfer Muslime seien. Als Beispiel führt Yaro die Entfüh-
rung der Schülerinnen von Chibok an, 90% von ihnen seien Christinnen. Zuvor und danach seien jedoch
mehrere tausend vorwiegend muslimische Mädchen und Frauen entführt worden, worüber in den Medien
kaum berichtet worden sei. Die muslimische Gemeinschaft in Nigeria, insbesondere sunnitische Gruppen,
haben laut Yaro neben tausenden Mitgliedern auch fast hundert ihrer prominenten Gelehrten und Lei-
tungspersonen verloren. Sie alle hätten Boko Haram kritisiert und seien deswegen durch die Sekte in
ihren Moscheen oder Häusern ermordet worden. „Wieviele Medien berichten darüber?“, fragt Yaro.
Untätige Behörden
Die Behörden Nigerias tragen zur Verstärkung des Konfliktes um Boko Haram bei. Korruption, Parteilich-
keit, Untätigkeit, Inkompetenz, Willkür, Amtsmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen sind bekannte
Probleme bei Militär, Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Verwaltungen. Yaro hat den Eindruck, dass
die Behörden insbesondere bei christlichen Akteuren ein Auge zudrückten, wenn diese terroristische
Handlungen vorbereiteten oder durchführten. Als Beispiel nennt er Fälle, wo Christen im Norden Nigerias
Kirchen und andere Einrichtungen angegriffen oder Angriffe geplant hätten. Zudem hat Yaro den Ein-
druck, dass terroristische Handlungen gegen Muslime weniger genau oder gar nicht untersucht würden.
Er nennt auch hier einige Beispiele und spricht von einer Doppelmoral der Behörden unter dem bisheri-
gen (christlichen) Präsidenten Jonathan. Zutreffend ist sicher, dass Justiz und Sicherheitskräfte in Nige-
ria, in denen ebenso christliche wie muslimische Beamte arbeiten, aus verschiedenen Gründen schwa-
che Institutionen sind und deshalb viele Verbrechen nicht aufgeklärt und die Täter nicht zur Rechenschaft
gezogen werden. Dadurch wird in der Bevölkerung nicht nur die Legitimität und Glaubwürdigkeit staatli-
cher Institutionen in Frage gestellt, sondern es kommt auch vermehrt zu Fällen von Rache und Selbstju-
stiz. Ob der Ende Mai 2015 vereidigte neue (muslimische) Präsident Buhari die Situation verbessern
kann wird sich weisen.
Mathias Tanner, arbeitet an einer Dissertation zu interreligiöser Friedensförderung in Jos, Nigeria.
Das Gespräch mit Abdulrahman Aliyu Yaro wurde auf Englisch geführt und anschliessend übersetzt.
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