Eine Reise auf den Spuren der Scharia durch die Wüsten des alten Arabien zu den Strassen der muslimischen Moderne
Berlin 2014
Ein etwas gewagter Vergleich: Wer die die Geschichten und Anekdoten der alten Rabbinen des Talmud kennt, wird sie in den genialischen Nacherzählungen des Elie Wiesel dennoch wie neu und erstmalig lesen. Ähnlich ist es mir etwa mit der ersten Hälfte von Kadris Nacherzählung der islamischen Geschichte ergangen. Denn die im Untertitel genannte Reise wird erst im zweiten Teil zu einer geographischen Reise – von Beginn aber ist es immer auch eine Reise durch Geschichte und Entwicklung. Und der Zielpunkt der Entwicklung ist die zunehmend verstörende Gegenwart. Wie bei Elie Wiesel sprechen die Pointen der Anekdoten und Erzählungen nicht nur für sich selbst, sondern bekommen durch den Autor einen kommentierenden Echoraum. Das erste Kapitel schliesst mit dem Tod des Propheten. Wie würde es weitergehen? Kadri formuliert sozusagen als Doppelpunkt für folgenden Ausführungen: «Gott würde zweifellos die Gläubigen leiten, aber diese Annahme sollte für immer im Bereich des Glaubens bleiben. Der Rest ist Geschichte.» (S. 40). Ich musste diesen Satz mehrfach lesen und nachklingen lassen.
So süffisant erzählt, so brisant auf den Punkt gebracht. Wie wurde, wie wird die Scharia gedeutet, praktiziert, weiter entwickelt? Der muslimische Autor und Menschenrechtsanwalt Sadri, dissertiert hat er über die europäische Rechtsgeschichte, stellt von seiner Herkunft her überraschend fest, dass der Begriff Scharia, in seiner Welt durch und durch positiv besetzt, im Westen zum Schreckgespenst geworden ist. So macht er sich auf die Suche nach der Geschichte der Scharia, und berichtet im Stil einer grossangelegten Reportage über Begegnungen mit zeitgenössischen Religionsstudenten und -gelehrten. Und was er zu Tage fördert, ist oft verstörend. Scheinbar Bekanntes wird neu durchdacht. Die berühmte Doktrin, dass das Tor zum Ijtihad geschlossen sei, also die Rechtsentwicklung abgeschlossen, wurde von einem Gelehrten formuliert, der diese Aussage eben für falsch hielt – aber sie entwickelte ein Eigenleben. Nichtsdestotrotz ging die Rechtsentwicklung immer weiter. Bis heute. Das Bemerkenswerteste, eine traurige Paradoxie, die sich wie ein blutroter Faden durchs Buch zieht, ist die Feststellung, «dass es den Hardlinern in weniger als vierzig Jahren gelungen ist, … dass sie die Scharia in den Köpfen vieler Menschen zu einem der drakonischsten Rechtssysteme der Erde gemacht haben.» (S. 256) Über Jahrhunderte entwickelte sich die islamische Rechtswissenschaft, eine gewaltige Errungenschaft, sie «setzte sich auf drei Kontinenten durch und stellte das Christentum fast tausend Jahre lang in den Schatten. Indem sie sich an lokale Lebensumstände und Bräuche anpasste, verband sie höchst unterschiedliche Zivilisationen miteinander. Doch ein vier Jahrzehnte währender rigoroser Umbau des Rechtswesens hat Theorien gestärkt, die keinen Raum für neue Ideen und Dissens lassen.» (S. 290) – so dass Staaten, die ihre Interpretation des islamischen Rechts institutionalisiert hätten, heute dem Rest der Welt hinterherhinkten; «den ersten Platz haben sie nur bei der Zahl der Todesopfer.» (ebenda) Das provoziert dann auf der Gegenseite selbsternannte Anti-
Dschihadisten, die online gegen ihre eigene Vorstellung der Scharia kämpfen (vgl. S. 291).
Der Buchtitel erklärt sich erst zum Schluss – und er wird heutzutage leider überhört. Sei es im lauten medialen Gewitter einer hochgebauschten Islamdebatte, oder im Kanonendonner junger verirrter Gotteskrieger. Die Menschen wollten nach Rechtschaffenheit streben, aber sollten «die Schrecken des Jenseits nicht schon vorwegnehmen. Himmel und Hölle liegen ausserhalb der Rechtsprechung, und was immer sie bereithalten mögen, Sterbliche können nur versagen, wenn sie Gott im Hier und Jetzt spielen.» (S. 312) Das einzige, was mir nicht ganz behagte, waren zwei drei giftige Bemerkungen zum Katholizismus. Auch wenn sie nicht aus der Luft gegriffen waren. So muss es, so habe ich gelernt, so muss es vielen Muslimen gehen, wenn sie über ihre Religion aus der Sicht Andersgläubiger lesen…
Hilfreich wäre einzig ein kleiner Vermerk im Vorwort gewesen, dass Hinweise, Belege, Anmerkungen im letzten Buchteil folgen. Wie auch immer, sogar die Danksagliste endet überraschend unkonventionell… Mit Augustinus kann ich nur sagen: Nimm und lies!
Thomas Markus Meier